著者
神尾 達之
出版者
日本独文学会
雑誌
ドイツ文学 : Neue Beitrage zur Germanistik (ISSN:03872831)
巻号頁・発行日
no.130, pp.15-29, 2006-10-30

Der privilegierte Status des Beobachters, der im "klassischen Zeitalter" (M. Foucault) einen transzendentalen Blick ermoglicht hatte, verier im Verlauf der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts an Stabilitat. Zur geradezu klassischen Voraussetzung "Vernunft" hieβ es beispielsweise in Lavaters "Von der Physiognomik": "Sagt uns die Vernunft nicht, daβ jedes Ding in der Welt eine auβere und innere Seite habe, welche in einer genauen Beziehung gegen einander stehen?". Der Physiognomik Lavaters lag also gleichsam die Intuition durch die Vernunft zugrunde. Er gab auch die Bedingungen fur die physiognomische Kompetenz an. Der "Beobachtungsgeist" musse namlich Herr uber den zu beobachtenden Gegenstand sein. Die Objektivitat dieser physiognomischen Beobachtung war, so koennte man sagen, dadurch garantiert, daβ sich das Objekt seines Beobachtetseins nicht bewuβt war. Von daher empfahl Lavater, daβ der Physiognomiker die Gesichter im Profil "beobachte"; so wirken silhouettierte oder gezeichnete Gesichter als Beobachtungsobjekte noch gunstiger. Um die ideale Beobachtungsposition einzunehmen, ging Lavater "in die Einsamkeit", d.h. in seine groβe Kollektion; er soll mehr als 20,000 Bildnisse gesammelt haben. Die Lavatersche Physiognomik war ein Traum, den die "Vernunft" in einer riesigen Datenbank traumte. Rousseau, ein Schweizerischer Zeitgenosse Lavaters, liebte auch die Einsamkeit, aber nicht umgeben von Bildnissen, sondern von Pflanzen. Er hat seine letzten Jahre in und bei Paris gelebt und zu dieser Zeit autobiographische Werke wie "Les Confessions", "Dialogues de Rousseau juge de Jean-Jacques", "Les Reveries du promeneur solitaire" geschrieben. In diesen Werken observiert er sich selbst rucksichtslos und beklagt sich zugleich im Verfolgungswahn daruber, daβ ihn andere standig beobachten. Die einseitige Beobachterposition, die ihm der botanischen Welt gegenuber bisher moglich war, laβt sich in Paris nicht realisieren und wird unterminiert. Hier muβ der Beobachter selber auch der zu beobachtende Gegenstand sein. Der Autor fuhlt sich von "l'ordre des choses" gerissen; er kann sich in Paris nicht mehr autonom orientieren. In E.T.A. Hoffmanns Erzahlung "Des Vetters Eckfenster" scheint die Beobachterposition vorerst stabil. Und der behinderte Protagonist scheint ungestort vom Blick der anderen zu sein, denn er ist in sein Zimmer, das eine camera obscura darstellt, zuruckgezogen. Aber er begnugt sich nicht mit bloβer Beobachtung von oben her. Er liest typisierend an dem auβeren Eindruck, den er von einzelnen Menschen hat, willkurlich je eine Geschichte ab. D.h. er beobachtet nicht, sondern erfindet. Daruber hinaus erwahnt der Text, obwohl marginal, daβ die Hauptfigur schon von An fang an beobachtet wurde. Dies steht symptomatisch fur die Umpositionierung des Beobachters. Der Beobachter wurde J. Crary zufolge um 1820 und 1830 in ein unmarkiertes Feld versetzt, auf dem die Unterscheidung zwischen Innen und Auβen unwiderruflich verwischt ist. Ganz anders als in Berlin kann der Beobachter in Wien noch immer an seiner stabilen Stellung festhalten. In Grillparzers "Der arme Spielmann" tritt der Protagonist als Fuβganger auf. Er kann souveran die Bewegung der Donau und der Masse uberblicken und aus auβerlichen Informationen die "Biographien der unberuhmten Menschen" zusammenlesen. Diese physiognomische Fahigkeit ermoglicht es ihm, die Vergangenheit des armen Spielmanns aufzudecken. Am Ende der Erzahlung gelingt es ihm auch, an den Tranen einer Frau ihre Beziehung zu dem Spielmann abzulesen. Dieser Flexibilitat des Beobachters entspricht die Popularisierung von Lavaters Physiognomik. An fang des 19. Jahrhunderts erschienen, angeregt durch die Zuwanderung in die Groβstadte, mannigfaltige verkurzte Versionen seiner umfangreichen "Physiognomischen Fragmente zur Beforderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe", wie "le Lavater portatif" u.a. Die Mobilitat der Beobachtung garantiert aber nicht das Gelingen der Physiognomik. "The Man of the Crowd" von Poe problematisiert schon die physiognomische Lesbarkeit in den Groβstadten. Diese von dem Satz "er lasst sich nicht lesen" umrahmte Erzahlung beginnt mit einer klassifizierenden Beobachtung aus dem Innenraum eines Cafes. Die Hauptfigur, der ein alter Mann plotzlich auffallt, entschlieβt sich, ihn zu verfolgen. Die Verfolgung fuhrt den Beobachter in ein Stadtviertel, dessen Pflastersteine "at random, displaced" im wuchernden Gras liegen. Dieser Raum gehort nicht mehr zu den "klaren Raumen, in denen die Dinge nebeneinandertreten" (M. Foucault). Der Raum, den die Lavatersche Physiognomik voraussetzte, ist nicht mehr gultig. Am Ende verzichtet der Beobachter auf die geheime Verfolgung und blickt dem Mann direkt ins Gesicht. Aber der beobachtete Mann bemerkt ihn nicht. Das mobile Beobachten scheitert. Baudelaire, der Poes Erzahlung ins Franzosische ubersetzt hat, multipliziert in seinem Gedicht "Les sept Vieillards" den unheimlichen Alten in der Menge. Baudelaire laβt den erschopften Verfolger den gleichen Greis halluzinatorisch siebenfach sehen. Endlich zuhause, aber orientierungslos, tanze der Verfolger "sur une mer monstrueuse et sans bords". Seine "raison" kann nicht mehr das Steuer fuhren. Der Verlust der objektiven Beobachterposition, welche die physiognomische "Vernunft" seit Lavater voraussetzte, wird durch die Geburt einer modernen Asthetik kompensiert.

言及状況

Twitter (1 users, 1 posts, 2 favorites)

収集済み URL リスト