著者
小黒 康正
出版者
九州大学独文学会
雑誌
九州ドイツ文学 (ISSN:09145842)
巻号頁・発行日
vol.24, pp.1-26, 2010-10-08

In der abendländischen Literaturgeschichte werden bestimmte Motivkomplexe bis heute in ungebrochener Tradition nach- und neuerzählt. Dem Typ „Wasserfraugeschichte" kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sich eine solche Sage umfassend und ausführlich mit der Problematik des Fremden befasst. Seit der Sirenenepisode in der „Odyssee" handelt es sich in diesem Überlieferungsbereich um eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und Meergeistern. Dieser Konflikt wird in facettenreichen Geschichten dargestellt, welche die Dichotomien von Land und Wasser, Mensch und Natur, Männlichem und Weiblichem, Rationalität und Irrationalität, Verwandtschaft und Fremdheit in Szene setzen. In der Antike verfügen die Sirenen als Mensch-Vogel-Wesen über betörenden Stimmen als Mittel der Verführung. Aber im Laufe der Zeit wandeln sich die Sirenen langsam unter dem Einfluss des Christentums in ein häretisches Mensch-Fisch-Wesen um, verlieren damit ihre schönen Stimmen und locken stattdessen mit jungfräulichem Leib die Menschen ins Wasser. Dieser Überlieferungsbereich nimmt sehr lange die Stimmlosigkeit der Wasserwesen hin, bis der Fischer in Goethes gleichnamigem Gedicht „ein feuchtes Weib" singen und sprechen hört. Diese sogenannte „Ballade" ertönt, wie Baudelaire und C. G. Jung meinen, aus den Angründen des eigenen Inneren des Fischers her und sinkt in die Tiefen seines Gemütes zurück. Es handelt sich dabei um eine komplexe Erfahrung, die das neuzeitliche Ich nicht nur mit der Fremde der äußeren Natur, sondern auch mit den fremden Seelentiefen oder der inneren Natur macht. Während die Wasserfrauen seit Goethes Ballade „Der Fischer" (1778) mit jungfräulichem Leib und dem Zauber ihrer Stimme Menschen ins Wasser locken, tragen die beiden hauptsächlich im Kunstmärchen keinen mythischen Konflikt mehr aus, vor allem in Fouqués Werk „Undine" (1811), das mit dem Bild der Aussöhnung zwischen Land und Wasser anfängt und mit der ewigen Umarmung der Wasserfrau durch ihren Liebsten endet. 1811, als diese Versöhnung in Fouqués Kunstmärchen ihren Höhepunkt erreicht, kommt es in Kleists „Wassermänner und Sirenen" erneut zu einem Widerstreit zwischen Mann und Frau. Es geht um den Kampf der Geschlechter, wobei der Unterschied nicht nur körperlich, sondern auch in sprachlicher Hinsicht manifest ist. Während das männliche Wasserwesen schließlich sprechen lernt, kann das weibliche sich weder artikulieren noch überhaupt sprachlich verständigen. Seit alters her können sich in der Dichtung Wasserfrauen mit Menschen sprachlich verständigen, ob die beiden sich nun feindlich oder freundlich gesonnen sind. Bei Kleist erscheint aber das fremdere Wasserwesen nicht als redseliger Elementargeist, sondern in seiner sprachlosen Weiblichkeit. Diese weibliche Sprachlosigkeit scheint jene Epoche vorwegzunehmen, die 1837 mit Andersens „Die Kleine Meerjungfrau" einsetzte. Dieses Kunstmärchen, das unter dem großen Einfluss der deutschen Romantik steht, wirkt auf die moderne, deutsche Literatur ein, in der es dann um stimmlose oder schweigende Wasserfrauen geht. Die Kleine Meerjungfrau kann sich weder als Wasserwesen im Meer noch als Mensch auf dem Land noch als Luftgeist im Himmel mit Menschen sprachlich verständigen. So stellt Andersens Märchen das Scheitern der sprachlichen Kommunikation dar. Hier lässt sich außerdem festhalten, dass Andersens Kustmärchen sich zwei große Rollen aus dem Volksmärchen borgt, die der alten Frauen. Die eine ist eine schöne, gut erzählende Großmutter im tiefen Wasser. Sie erzählt ihren Enkelinnen von der Menschenwelt so redegewandt, dass die Kleine Meerjungfrau eine glühende Sehnsucht danach bekommt. Die zweite ist eine hässliche Hexe im tieferen Wassergrund, deren Magie der Kleinen Meerjungfrau Beine gibt. Diese überschreitet dank der Rede- und der Zauberkunst der alten Frauen die Grenze zwischen Wasser und Land, obwohl sie immer in der sprachlichen Verständigung mit Menschen versagt. Bei Andersen langt der Überlieferungsbereich der Wasserfraugeschichte an einem neuen Wendepunkt in seiner Entfaltung an. Rainer Maria Rilkes Gedicht „Die Insel der Sirenen" (1907) entsteht aufgrund seiner Rezitation vor drei Frauen auf der Insel Capri am 22. Dezember 1906. Das Gedicht ist eine Identifikation des wandernden Dichters mit dem herumirrenden Odysseus auf der Insel der Phaiaken. Das Gedicht thematisiert die wirkliche „Insel", auf der der Dichtende Gast war, und die überlieferten „Inseln", von denen „er denen, die ihm gastlich waren, [...] still berichtete". Es dreht sich um die „Stille, die die ganze Weit in sich hat und an die Ohren weht, so als wäre ihre andre Seite der Gesang, dem keiner widersteht." Diese absolute Lautlosigkeit kann man nicht sprachlich bezeichnen, so dass denn auch das Substantiv vom Pronomen "es" ersetzt wird. Das Wort ist zwar zu schreiben, aber nicht inhaltlich mitzuteilen. Als sich die singenden Wasserfrauen in ein schweigendes Wort umwandeln, entsteht die Poesie aus der Negativität der Sprache. Es handelt sich bei diesem Wandel um „die Gefahr [...] Lautlos kommt sie über die Matrosen". Dieses Gedicht läuft Gefahr, die unbeschreibliche Stille zu beschreiben. Bei Franz Kafka gibt der Traum von einer Sirene im August 1917 Anlass zum poetischen Niederschlag der Stille: „immer wieder faßte sie mich an, immer wieder schlugen von der Seite oder über meine Schultern hinweg die Krallenhände der Sirene in meine Brust". Das Mensch-Vogel-Wesen verfügt nicht mehr über die betörenden Stimmen, sondern greift nur lästig den Schriftsteller an, wobei es sich zuerst im noch namenlosen Pronomen „sie", dann im Wesen namens „Sirene" zeigt. Die unerklärliche Furcht steht, biographisch gesehen, für Kafkas Angst vor dem Eheversprechen oder für die Negation der Ehe. Hier ertönt gar nicht der Lockruf der Wasserfrau, sondern „unaufhörlich" nur Kafkas Ausruf „Nein, laß mich, nein laß mich!" Ihre Krallenhände schlagen ihm so tiefe Wunde, dass er in den Oktavheften zwischen 23. und 25. Oktober 1917 seine eigene Version des Sirenenmythos einträgt. In dem von Max Brod betitelten Text „Das Schweigen der Sirenen" geht es um „eine noch schrecklichere Waffe als ihr Gesang". Dort nimmt Odysseus seine Zuflucht zu einer doppelten Absicherung, deren Gleichzeitigkeit, Wachs und Ketten, beide jeweils unschlagbar macht. Der einfallsreiche Held wirkt bei Kafka kindlich und überheblich, ja er wird sogar zu einem einfachen Feigling, während die Sirenen kein Bewusstsein mehr haben. Im Anhang des Textes kommt es jedoch zu einer Umkehrung, Odysseus sei „so listenreich", dass sein Innerstes „mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist". Das literarische Erzählen richtet sich gern auf etwas, das absolut fremd ist, und versucht, es bekannt und erzählbar zu machen, wobei es freilich nicht immer verständlicher wird. Der unsagbare oder unerkennbare Fremde ist nun Odysseus, nicht die Sirenen. Es handelt sich um einen „Scheinvorgang" oder einer Reihe von Negationen, die die Poesie der sprachlichen Negativität entstehen lässt. In Anlehnung an Kafkas Text erzählt Bertolt Brecht von seinem eigenen Gesichtspunkt aus die Geschichte über „Odysseus und die Sirenen" (1933) nach, wobei der mythische Held wieder entheroisiert wird. „Sollten diese machtvollen und gewandten Weiber ihre Kunst wirklich an Leute verschwendet haben, die keine Bewegungsfreiheit besaßen? Ist das das Wesen der Kunst?" Der Text lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Verschwendung der Kunst, wobei er nicht nur an dem „verdammten vorsichtigen Provinzler" Kritik übt, sondern auch an einem privilegierten Stand, der die schönen Stimmen dienstfrei genießen kann. Diese Nacherzählung bringt uns nicht zur Einfühlung in den Mythos, sondern zur Auseinandersetzung mit demselben. Bei Brecht sind zwar die Sirenen nicht schweigsam wie bei Rilke und Kafka, aber den drei Texten ist es gemeinsam, dass die Sirenen nicht mehr über die betörenden Stimmen als Mittel der Verlockung verfügen. Besonders bei Brecht dreht es sich gar nicht um die schönen Stimmen, die Einfühlung und Illusion möglich machen, sondern um die Schimpferei, die kritisches Bewusstsein wecken sollte. Seine Suche nach dem „Wesen der Kunst" findet in dieser Nacherzählung ihren Niederschlag. In der modernen deutschen Literatur wird das Schweigen zum Zeichen für das, was nicht gesagt werden kann. Rilke, Kafka und Brecht wagen mit den schweigenden oder nur schimpfenden Wasserfrauen einen neuen literarischen Versuch, so dass ein poetisch viel sagendes Schweigen entsteht.

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